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Richard Neutra. Wohnhäuser für Kalifornien
Neutra war begeistert von der hochentwickelten industriellen Fertigung in den USA, beschäftigte sich zugleich aber auch mit Physiologie, Psychologie und Verhaltensforschung – das Ziel war eine neue humanistische Architektur. Seine Bauten zeichnen sich durch offene Grundrisse, leichte Konstruktionen und eine enge Beziehung zur umgebenden Landschaft aus, sie folgen einem strengen System und sind zugleich auf individuelle Wohnbedürfnisse zugeschnitten.
Ausstellungsansichten, Wien Museum MUSA, 2020, Fotos: Christoph Panzer
Die Ausstellung ist das Ergebnis einer Forschungsreise der beiden Kuratoren und nähert sich Richard Neutras Leben und Werk auf zwei Ebenen: Die Fotografien von David Schreyer präsentieren neun exemplarische Häuser des Architekten, die mit ihren kompakten Grundrissen und klugen Raumkonfigurationen nicht nur dem Klischee von Neutra als Erbauer luxuriöser Villen widersprechen, sondern sich auch als Vorbilder für das Bauen heute eignen.
Ergänzend dazu wird die wechselvolle Beziehung Neutras zu seiner Heimatstadt Wien beleuchtet, wo er seine prägende Jugend verbrachte und wohin er sich am Ende seines Lebens vergeblich zurücksehnte.
Der Ausgangspunkt der Ausstellung ist auch ihr Ziel: in Bildern, die bewusst auf eine ikonische Inszenierung verzichten, die persönliche Erfahrung vor Ort zu vermitteln und Neutra nicht als Exponenten einer zugleich nostalgischen und kommerziellen „Mid-Century-Modern“-Mode zu feiern, sondern die ungebrochene – oder neue – Aktualität seiner Architektur zu zeigen.
Andreas Nierhaus und David Schreyer, Kuratoren
Kapitel I
Neun
exemplarische
Häuser
McIntosh House
Silver Lake, Los Angeles
1937–1939
An der Straßenseite verschlossen, ja beinahe abweisend, öffnet sich das kleine Haus mit großer Geste maximal zum Garten. Dieser wirkt wie ein zusätzlicher, von rechten Winkeln begrenzter Wohnraum im Freien und lässt das Haus weitaus größer erscheinen, als es mit rund 83 m2 tatsächlich ist. Die Konstruktion besteht aus Fachwerk und ist mit dunkelbraunem Mammutbaumholz verkleidet. Der silberne Anstrich der hölzernen Fensterrahmen imitiert Stahlkonstruktionen, die Neutra zur selben Zeit bei aufwendigeren Bauaufträgen verwendete. Die Baukosten lagen bei lediglich 3.800 US-Dollar.
Die Schauspielerin, Sängerin und Künstlerin Ann Magnuson kaufte das Haus 1992. Ihr Mann, der Architekt John Bertram, hat mehrere Häuser Richard Neutras restauriert. Die geringe Größe ist für beide eine Herausforderung, auch weil das Haus durch seine formale Strenge keine Unordnung zulässt. Die Raumökonomie und die Bescheidenheit empfinden sie wiederum als Befreiung, weil das Haus sie davon abhält, unnütze Dinge anzusammeln.
Miller House
Palm Springs
1936–1937
Die Salonlöwin Grace Lewis Miller wollte in Palm Springs Gymnastikkurse für Frauen anbieten und beauftragte Neutra mit dem Bau eines Wohnhauses samt Studio. Nach dem Lovell Health House (1927–1929) hatte Richard Neutra nun abermals die Gelegenheit, ein Haus zu planen, das eine dem neuen Körperbild adäquate, leichte und transparente Architektur aufweisen sollte. Vielleicht gilt das Miller House deshalb als der eleganteste Bau, den der Architekt in jener Zeit realisieren konnte.
Als Catherine Meyler das Haus im Jahr 2000 erwarb, war von seinen gestalterischen Qualitäten kaum mehr etwas zu erkennen. Meyler, die Locations für Film- und Fotoshootings vermittelt, gelang bei der behutsamen Restaurierung das Kunststück, eine an die 1930er-Jahre erinnernde Atmosphäre zu schaffen, die aber nicht museal wirkt. Und sie realisierte einen bereits von Neutra geplanten Zubau, der nun als Gästebereich dient. Die neue Bauherrin des Hauses konnte so einen Wunsch ihrer Vorgängerin erfüllen.
Oyler House
Lone Pine
1959
Lone Pine liegt etwa dreieinhalb Autostunden nördlich von Los Angeles am Fuß der Sierra Nevada. Hier steht eines der ungewöhnlichsten Häuser Richard Neutras. Bauherr war der Beamte und Versicherungsmakler Richard F. Oyler, der in der örtlichen Bibliothek auf die Bauten des Architekten aufmerksam geworden war. Neutra war gewohnt, für Bauherren mit kleinem Budget zu arbeiten, und entwarf eines seiner eindrucksvollsten Häuser. Die Steine für die Stützmauern wurden vor Ort gesammelt, die Holzbalken von Oyler selbst bearbeitet. Das Flachdach kragt ungewöhnlich weit aus, um das Haus und seine Bewohner*innen vor großer Hitze zu schützen.
Die Schauspielerin Kelly Lynch und der Filmproduzent und Autor Mitch Glazer erwarben das Oyler House 1992, Jahre bevor die Hysterie um „Mid-Century Modern“ ausbrach, und viele Freund*innen des Paares hatten wenig Verständnis für dessen Wahl. Das Haus, so Kelly Lynch, sei durch den kompakten Grundriss und die natürlichen Baumaterialien ein Vorbild für heute. Es sei ein Kunstwerk und zugleich der beste Beweis dafür, dass ein solches nicht viel kosten müsse.
Wilkins House
Pasadena
1949
Das von John Entenza, dem Herausgeber der Zeitschrift „Arts & Architecture“, 1945 initiierte Case Study House Program hatte zum Ziel, dem Publikum mustergültige und kostengünstige moderne Wohnhäuser als Modelle im Maßstab 1:1 zu präsentieren. Nur ein Teil der bis 1966 entworfenen 36 Häuser wurde gebaut. Vertreter*innen der jungen Architekt*innengeneration kamen ebenso zum Zug wie Richard Neutra. Sein Haus #13 war laut den veröffentlichten Planungsunterlagen für eine Modellfamilie „Alpha“ konzipiert und sollte demonstrieren, wie sehr der Architekt auf die in Fragebögen und Gesprächen artikulierten Bedürfnisse und Wünsche der künftigen Bewohner*innen einging. Tatsächlich hatten ihm Gordon und Mary Wilkins längst den Bauauftrag gegeben, als das Haus publiziert wurde.
Im Jahr 2000 wurden Stacey und Jeff Mann, beide arbeiten im Filmgeschäft, Eigentümer des Hauses. Es war von Vegetation überwuchert, das Innere durch zahlreiche Veränderungen entstellt. Nach der Restaurierung sollte Julius Shulman das Haus fotografieren. Da die Manns noch keine Möbel hatten, wurde es kurzerhand mit Filmrequisiten eingerichtet.
Freedman House
Pacific Palisades, Los Angeles
1949
An der Steilküste hoch über dem Pazifik erbaute Richard Neutra ein Haus für Nancy und Benedict Freedman, zwei erfolgreiche Drehbuchautor*innen. Ein Haus am Wasser in zweifacher Hinsicht, denn die durch den Wohnraum geführte Achse verbindet die Aussicht auf den Pazifik mit dem Pool. Die ungezügelte Wildheit des schier unendlichen Ozeans auf der einen, das domestizierte Nass auf der anderen Seite, das Gebäude dazwischen kaum mehr als eine Membran.
Die heutigen Besitzer*innen, Marty Longbine und ihr Mann, der Musikmanager Jeff Ayeroff, nehmen diese Offenheit als besondere Qualität wahr. Der Blick aufs Meer, so Ayeroff, ergibt jeden Tag ein anderes Bild. Für ihn ist es „ein einfaches Haus, das auf den Ozean blickt“. Das Haus wurde zuletzt von Architekt Peter Grueneisen aufwendig saniert und erweitert. Das Ergebnis ist ein ungewöhnlich „lebendiges“ Haus, in dem die Vergangenheit nicht mit der Gegenwart kollidiert, sondern als selbstverständlicher Teil einer bestimmen Tradition – vielleicht der von Neutra imaginierten neuen mediterranen Kultur – empfunden wird.
Strathmore Apartments
Westwood, Los Angeles
1937
Mit den Strathmore Apartments gelang Neutra das Kunststück, eine einheitliche Gruppe von Wohnungen zu errichten, die zugleich – unterstützt durch das anfangs noch karge Grün des Hofes – den Charakter von Einzelwohnhäusern trugen und so den Ansprüchen eines „individualistischen“ Wohnens entgegenkamen, ohne ihre systematische und rationale Planungsgrundlage zu verleugnen. Die zunächst als „Mondarchitektur“ verspotteten Apartments hatten von Anfang an prominente Bewohner*innen, darunter die Schauspielerin Luise Rainer, der Regisseur Orson Welles, das Designerpaar Charles und Ray Eames und der Herausgeber der Zeitschrift „Arts & Architecture“ und Begründer des Case Study House Program John Entenza.
Die Designerin Rebeca Mendez und der Publizist Adam Eeuwens zogen 2006 hier ein, benötigten aber einige Zeit, bis sie ihre Wohnung nicht mehr als Museumsobjekt, sondern als ihren Besitz betrachten konnten. Für die beiden sind die Strathmore Apartments mit ihrer Raumökonomie bei gleichzeitig hoher gestalterischer Qualität ein Modell für die Zukunft des Wohnens in Los Angeles.
Ohara House
Silver Lake, Los Angeles
1961
Der Silver Lake ist kein idyllischer See, sondern ein Reservoir, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wasserversorgung des rapide wachsenden Los Angeles sicherstellen sollte. An seinem Ufer hatte Neutra bereits 1932 sein Wohn- und Atelierhaus errichtet. In der Nähe entstand von 1948 bis 1961 eine Kolonie von neun Häusern des Architekten. Hitoshi und June Ohara waren Nachkomm*innen japanischer Einwander*innen, und Neutra, dessen Verständnis von Architektur und Wohnen entscheidend von seinem frühen Aufenthalt in Japan beeinflusst war, schätzte die Zusammenarbeit mit diesen Auftraggeber*innen offenbar ganz besonders. Zentrum des relativ kleinen Hauses ist der an drei Seiten durch Glaswände maximal nach außen geöffnete und erweiterte Wohnbereich.
Heute wohnt hier der Designer David Netto, der nicht nur die Einbettung des Hauses in die Landschaft, sondern insbesondere auch die Zurückhaltung und die Bescheidenheit von Neutras Architektur schätzt.
Kambara House
Silver Lake, Los Angeles
1959–1961
Das Haus für George und May Kambara gehört zu den letzten in jener Kolonie von neun Häusern, die Richard Neutra am Ufer des Silver Lake errichtete. Die Kambaras waren Nachfahr*innen japanischer Einwander*innen und hatten konkrete Vorstellungen vom Aussehen ihres Hauses. Obwohl es sich um einen kompakten, blockartigen Bau handelt, scheinen die einzelnen Geschosse wie Plattformen übereinander zu schweben. Durch die verschiebbare Wand zwischen Wohn- und Essbereich ergeben sich großzügige Sichtbeziehungen vom Balkon bis in den rückwärtigen Hof.
Heute bewohnen die Architektin Elizabeth Timme und der Schauspieler Hank Harris gemeinsam mit ihren Kindern das original erhaltene Haus. Während Harris die starke Persönlichkeit des Hauses schätzt, fühlt sich Timme zum Widerspruch herausgefordert. Als Antwort auf die rapide Gentrifizierung engagiert sie sich für communitybasierte Stadtentwicklung und plant leistbare Wohnhäuser, sogenannte „Backyard Homes“, für die auch in Silver Lake noch genügend Platz vorhanden wäre.
VDL II Research House
Silver Lake, Los Angeles
1965–1966
Erst durch einen Kredit des niederländischen Industriellen Cees van der Leeuw („VDL“) war Richard Neutra in der Lage, eine Wohn- und Arbeitsstätte für sich und seine Familie zu errichten, die 1932 fertiggestellt war. Neutra experimentierte hier gleichsam im Selbstversuch mit modernen Wohntechniken. Nach einem verheerenden Brand 1963 wurde das Haus unter Federführung seines Sohnes Dion wiederaufgebaut.
Heute gehört es der California State Polytechnic University in Pomona. Im Gästehaus wohnen die Architektin Sarah Lorenzen und ihr Partner, der Animationsgrafiker David Hartwell, die das Haus betreiben und öffentlich zugänglich machen. Hartwell schätzt insbesondere den Bezug zum Draußen, der in Kalifornien jedoch eine immer geringere Rolle spiele, weil man sich lieber in klimatisierte Räume zurückziehe, als das mediterrane Klima zu genießen. Hartwell würde sich wünschen, dass sich die Stadtverwaltungen Häuser wie dieses zum Vorbild nehmen: „Es gibt Architekturen, die sozialen Druck verursachen, und andere, die das nicht tun.“
Kapitel II
Richard Neutra
und Wien
Wiener Kindheit um 1900
Richard Neutra erlebt eine behütete Kindheit in der Leopoldstadt. Zu seinen frühesten Erinnerungen zählt die düstere, mit schweren, altmodischen Möbeln eingerichtete elterliche Wohnung in der Nähe des Augartens. Jahrzehnte später wird er sie in den Memoiren zu seinem persönlichen Ausgangspunkt für eine konsequente Erneuerung des Wohnens im Sinne der Moderne machen: maximale Öffnung zum Außenraum, sparsame, funktionale Einrichtung, Befreiung vom dekorativen Überfluss der Gründerzeit. Seine um viele Jahre älteren Brüder Wilhelm und Siegfried, die Medizin und Maschinenbau studieren, sind wichtige Vorbilder, die sechs Jahre vor ihm geborene Schwester Josefine beeinflusst ihn durch ihre künstlerischen Ambitionen. An seinem Vater, der sich vom Lehrling zum Gießereibesitzer hinaufgearbeitet hatte, bewundert er dessen besondere technische Fertigkeit und Präzision. In der Werkstatt des Vaters fühlt sich der kleine Richard besonders wohl. Vielleicht hat das große technische Interesse, das Neutra als Architekt auszeichnen wird, hier seinen Ursprung.
Entscheidende Begegnungen
In den Jahren um 1900 wird an keinem Ort leidenschaftlicher über Sinn und Möglichkeiten einer konsequenten Erneuerung der Architektur gestritten als in Wien. Otto Wagner macht das „moderne Leben“ zum Ausgangspunkt der Gestaltung; nicht mehr die Formen der Vergangenheit, sondern Zweck, Konstruktion und Material sollen die Grundlagen der Baukunst bilden. Als Professor an der Akademie der bildenden Künste gibt er diese Lehre an die nächste Generation weiter. Der junge Richard Neutra verfolgt die Debatten um Wagners Projekt für das Stadtmuseum am Karlsplatz ebenso wie den Skandal um das Haus am Michaelerplatz von Adolf Loos. Parallel zu seinem Studium an der Technischen Hochschule besucht Neutra die private Bauschule von Loos, der ihn stark beeinflusst und seine Neugierde auf Amerika weckt. Er entdeckt die Werke von Frank Lloyd Wright und Louis Henry Sullivan. Die Beziehung zu seinem Schwager, dem Kunsthistoriker Arpad Weixlgärtner, weckt bei Neutra jenes große kulturhistorische Interesse, das sein Nachdenken über Architektur bestimmen wird.
Krieg und Zusammenbruch
Im Sommer 1914, wenige Wochen nach den Schüssen von Sarajevo, wird der Leutnant der Reserve Richard Neutra nach Trebinje im äußersten Süden Bosnien-Herzegowinas abkommandiert. Kurz darauf bricht der Krieg aus. Seine wichtigste Aufgabe ist die Beobachtung feindlicher Schiffsbewegungen entlang der Küste. Nicht unmittelbar in Gefechte verwickelt, bleibt ihm trotz des entbehrungsreichen Alltags viel Zeit zum Nachdenken über die Welt und die eigene Zukunft, die für ihn in Amerika liegt. Wie er später selbst berichtet, wird Neutra in der vielsprachigen Armee der Monarchie zum Kosmopoliten. Er lernt das Elend der Bevölkerung kennen, erkrankt selbst schwer an Malaria. Den Zusammenbruch der Monarchie erlebt er in einem Sanatorium in der heutigen Slowakei. Mit seinem letzten Bargeld macht er sich auf den Weg in die Schweiz, um in einem Erholungsheim bei Zürich gesund zu werden. Hier lernt er seine künftige Frau Dione Niedermann kennen. Eine Reise nach Amerika ist angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage noch in weiter Ferne.
California Calls You
Richard Neutras direkter Draht nach Amerika ist seit 1914 der Otto-Wagner-Schüler Rudolph Schindler, der kurz vor dem Ausbruch des Krieges in die USA gereist ist. Die erhaltenen Briefe zeugen von Neutras Neugierde wie von Schindlers Heimweh, nach dem Zusammenbruch berichtet Neutra von der katastrophalen Lage in Wien und bittet begierig um Informationen über amerikanische Architektur. Er beschwört Schindler, der gerade für Frank Lloyd Wright arbeitet, nicht nach Europa zurückzukehren, und fragt seinerseits nach den Modalitäten einer Einwanderung in die USA. 1920 bittet Schindler ihn, Exemplare von Otto Wagners Publikationen zu beschaffen, und überlässt ihm seinerseits das Manuskript von Louis Henry Sullivans „Kindergarten Chats“, um in Berlin, wo Neutra mittlerweile bei Erich Mendelsohn arbeitet, einen Verleger zu finden. Neutra fehlt das Geld für die Überfahrt. 1921 erreicht Schindler, dass Wright Neutra zur Mitarbeit an seinen Projekte in Japan einlädt, doch es vergehen noch zwei Jahre, ehe Neutra im Oktober 1923 in Hamburg ein Schiff nach New York besteigt.
Wie baut Amerika?
Publikationen können Architekt*innenkarrieren entscheidend beeinflussen – das gilt für die Verbreitung von Fotografien ihrer Bauten ebenso wie für auflagenstarke Bücher. In den späten 1920er-Jahren ist Richard Neutra in seiner Heimatstadt und im deutschsprachigen Raum nicht nur als Schöpfer des Lovell Health House bekannt, sondern auch als Autor wichtiger Bücher über die Architektur in den USA. Das Interesse daran ist groß: In Europa weiß man bis dahin nur wenig über Bautechnik und Baupraxis in Amerika. Während seiner ersten Jahre auf dem neuen Kontinent verfasst Neutra in enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Dione das überaus erfolgreiche Buch „Wie baut Amerika?“, 1930 erscheint dann in der prestigeträchtigen Reihe „Neues Bauen in der Welt“ im Wiener Schroll-Verlag ein zweites Amerikabuch. Mit diesen beiden Publikationen wird Neutra nicht nur international als führender Experte für amerikanische Architektur anerkannt, er gilt auch bald als der bedeutendste Vertreter des „Neuen Bauens“ in den USA – auch wenn er bis dahin vergleichsweise wenig gebaut hat.
Projekte für Wien
Während er in Kalifornien an seiner Karriere arbeitet, hält Richard Neutra stets Kontakt zu seiner Heimat. Zu Beginn ist nicht klar, wie lange der Aufenthalt in Amerika dauern wird; eine Rückkehr steht nach wie vor im Raum. Doch die Arbeitsbedingungen in Österreich und Deutschland sind nicht einladend. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Zusammenbruch wird durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 wieder zunichtegemacht. Im Roten Wien ist der private Wohnbau zur Gänze zum Erliegen gekommen, die Stadtväter forcieren eine Architektur, die mit konventionellen Bautechniken und traditionellen Formen das Gegenteil dessen ist, was Neutra erreichen möchte. Noch bevor er in Kalifornien eintrifft, nimmt er 1924 am Wettbewerb für eine neue Synagoge in Hietzing teil. Sein kubisch-strenges, „funktionalistisches“ Projekt hat jedoch keine Chance. 1930 wird er von Josef Frank zur Teilnahme an der Planung der internationalen Werkbundsiedlung eingeladen. Das kleine Haus wird der einzige Bau Neutras in seiner alten Heimat bleiben.
Die Familie in Gefahr
Während Richard Neutra als vielbeschäftigter Architekt im Kalifornien der 1930er Jahre großes Ansehen genießt, wird die Situation für seine Familie in Österreich nach dem „Anschluss“ 1938 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft lebensbedrohlich. Den Brüdern Wilhelm und Siegfried – sie sind beide über sechzig Jahre alt – gelingt die Flucht ins Exil in den USA, die Schwester Josefine bleibt jedoch in Wien zurück: Sie ist mit dem Kunsthistoriker Arpad Weixlgärtner verheiratet und durch dessen Status als „Arier“ in einer „privilegierten Mischehe“ vor Verfolgung weitgehend geschützt. Allerdings ist ihr Status höchst prekär und von der Willkür des NS-Regimes abhängig. Weixlgärtner versucht durch Gutachten prominenter nationalsozialistischer Geisteswissenschaftler die Bürgerrechte für seine Frau zu erlangen. Nachdem sie die Dienstwohnung verlassen müssen, werden die Weixlgärtners in einer „arisierten“ Villa in Hietzing einquartiert. Nach der Befreiung 1945 wird ihre Wohnung niedergebrannt, die gesamte Habe geht verloren. Das Ehepaar übersiedelt daraufhin nach Schweden.
Ein Star der Nachkriegsmoderne
Nach dem Krieg geben Richard Neutras leichte und transparente Häuser der trügerischen Idylle von der weißen amerikanischen Kleinfamilie den adäquaten Rahmen. Der enge Bezug zur umgebenden Landschaft kann auch als Angebot für eine Versöhnung zwischen Mensch und Natur nach dem Grauen des Krieges interpretiert werden. In seinem Konzept vom „Biorealismus“ stellt Neutra die Architektur in den Dienst der vermeintlich unverrückbaren „natürlichen“ Bedürfnisse des Menschen. Gleich Ärzt*innen sollen Architekt*innen Erkrankungen heilen und ihrem Ausbruch vorbeugen, wobei Neutra nicht nur die einzelnen Bauherr*innen, sondern – in seinen Siedlungsplanungen – die gesamte Bevölkerung im Blick hat.
Dank Julius Shulmans ikonischer Fotografien, die in Fachzeitschriften und Wohnmagazinen erscheinen, wird Neutras Architektur nun auf der ganzen Welt bekannt. Sie steht – anders als der aus Europa emigrierte globale Funktionalismus von Gropius und Mies van der Rohe im Osten der USA – für eine spezifisch amerikanische, kalifornische Moderne, die in engem Bezug zur örtlichen Kultur, zu Landschaft und Klima steht.
Architekt der Bücher
Zeitschriften und Bücher sind für die weltweite Verbreitung von Richard Neutras Vorstellungen unerlässlich: Seine Bauten stehen zum Großteil im weit entfernten äußersten Westen der USA, seine privaten Wohnhäuser kennen die wenigsten aus eigener Anschauung – umso wichtiger ist die fotografische Dokumentation, Repräsentation und Distribution. Willy Boesiger, der das Gesamtwerk von Le Corbusier veröffentlicht, publiziert ab 1951 auch Neutras Schaffen. Seine theoretischen Anschauungen („Survival through Design“, 1954) ebenso wie die Memoiren („Life and Shape“, 1962) werden umgehend ins Deutsche übersetzt. Die drei Bände des Verlags Alexander Koch sollen das Konzept des „Biorealismus“ veranschaulichen, werden aber meist als bloße Vorbildersammlungen für einen modischen „Neutra-Stil“ verwendet, der sich in den 1960er-Jahren ausbreitet und von der jungen Avantgarde scharf kritisiert wird. Neutras letztes Buch, das sein eigenes Haus in Los Angeles zum Zentrum hat, erscheint posthum 1977 in der DDR, womit sich einmal mehr sein globaler, ideologische Grenzen überwindender Einfluss zeigt.
Versuch einer Rückkehr
Während Richard Neutra in den 1960er-Jahren in Deutschland und der Schweiz mehrere Aufträge erhält, gestaltet sich das Verhältnis zu seiner Heimatstadt schwierig. Zwar muss er nicht erst, wie die 1938 vertriebenen Architekt*innen, „wiederentdeckt“ werden, im Gegenteil: Man ist stolz auf den weltberühmten Österreicher. Bereits 1949 wird ihm im Museum für angewandte Kunst eine Ausstellung gewidmet, 1958 erhält er den Preis der Stadt Wien, 1962 soll er ein Kulturdorf in Kierling bauen; auch von der Planung des ORF-Landesstudios Salzburg ist die Rede. Von 1967 bis 1969 halten sich Dione und Richard Neutra die meiste Zeit in Wien auf, er hofft auf Aufträge, möchte die Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen und Planen koordinieren und einen internationalen Architekt*innenkongress etablieren. Im Auftrag der Bundesregierung entsteht schließlich der Film „Die Ideen des Richard Neutra“. Für die arrivierten Architekt*innen ist Neutra ein Konkurrent, die Jungen sehen ihn als Vertreter des Establishments. Aus diesem unfreundlichen Klima ziehen sich die Neutras 1969 resigniert nach Los Angeles zurück.
Kapitel III
Richard Neutra
Biografie
1892
Richard Neutra wird am 8. April als Sohn von Elisabeth und Samuel Neutra in eine jüdische Wiener Familie geboren. Der Vater besitzt eine Gießerei in der Leopoldstadt.
1902–1910
Besuch des Sophiengymnasiums in der Zirkusgasse.
1911
Nach einjährigem Militärdienst Beginn des Architekturstudiums an der Technischen Hochschule Wien, Abschluss nach kriegsbedingter Unterbrechung 1918.
1912
Neutra lernt den Otto-Wagner-Schüler Rudolph Schindler kennen und reist mit Sigmund Freuds Sohn Ernst nach Dalmatien. Im Herbst tritt er in die die private „Bauschule“ von Adolf Loos ein.
1914
In der Bibliothek begegnet Neutra dem Werk von Frank Lloyd Wright, das ihn nachhaltig prägt und ihn in seinem Wunsch bestärkt, die USA kennenzulernen.
1914–1918
Neutra leistet seinen Kriegsdienst als Leutnant der Artillerie am Balkan, wo er an Malaria und Tuberkulose erkrankt. In Trebinje (Bosnien-Herzegowina) realisiert er sein erstes Gebäude, ein Teehaus.
1919
Als Rekonvaleszent in der Schweiz lernt Neutra seine künftige Frau Dione Niedermann kennen. Mitarbeit beim Gartenarchitekten Gustav Ammann in Zürich und im Büro Wernli & Staeger in Wädenswil, Teilnahme an Kursen von Karl Moser an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.
1920
Kurzzeitige Rückkehr nach Wien, Mitarbeit in einer Quäker-Hilfsorganisation, danach Übersiedelung nach Berlin.
1920–1923
Mitarbeit im Büro Pinner & Neumann in Berlin, später bei Heinrich Staumer. Für kurze Zeit ist Neutra Stadtarchitekt von Luckenwalde bei Berlin, danach wird er Assistent von Erich Mendelsohn.
1922
Heirat mit Dione Niedermann.
1923
Neutra reist alleine in die USA und wird dort kurzzeitig Mitarbeiter bei C. W. Short und Maurice Courland in New York.
1924
Geburt des Sohnes Frank Lloyd. Neutra arbeitet als Zeichner im Büro von Holabird & Roche in Chicago und lernt Louis Henry Sullivan und Frank Lloyd Wright kennen. Gemeinsam mit seiner Frau übersiedelt Neutra in Wrights Atelierhaus Taliesin (Wisconsin) und wird dessen Mitarbeiter.
1925
Die Neutras ziehen nach Los Angeles und wohnen im Haus von Rudolph Schindler. Intensive Beschäftigung mit dem utopischen Stadtentwurf „Rush City Reformed“.
1926
Geburt des Sohnes Dion. Schindler und Neutra nehmen gemeinsam am Wettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf teil.
1927
Veröffentlichung des Buches „Wie baut Amerika?“.
1927–1929
Bau des Lovell Health House in Los Angeles. Mit diesem spektakulären Bau, der als erstes reifes Beispiel des „International Style“ in den USA gefeiert wird, gelingt Neutra der Durchbruch. In den folgenden vier Jahrzehnten wird Neutra hunderte Projekte für Wohnhäuser, Siedlungen und öffentliche Bauten in Amerika und Europa realisieren.
1930
Neutra reist über Japan, China, den Indischen Ozean und den Suez-Kanal nach Europa. Die traditionelle japanische Architektur hinterlässt bei ihm großen Eindruck. Zusammentreffen mit Alvar Aalto, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier.
1930
Veröffentlichung des Buches „Amerika. Die Stilbildung des Neuen Bauens in den Vereinigten Staaten“.
1932
Teilnahme an der von Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock organisierten Ausstellung „Modern Architecture“ im Museum of Modern Art in New York. Bau des VDL Research House als Wohnhaus und Büro. Eröffnung der Wiener Werkbundsiedlung, in der auch ein Modellhaus von Richard Neutra steht.
1939
Geburt des Sohnes Raymond.
1943/44
Neutra arbeitet als Chefplaner und architektonischer Berater der Regierung von Puerto Rico.
1944/45
Präsident der CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne).
1947
Mit dem Kaufmann Desert House in Palm Springs realisiert Neutra eines der bekanntesten Einfamilienhäuser des 20. Jahrhunderts. In der Nachkriegszeit werden seine häufig publizierten Bauten weltweit zu Modellen des modernen Wohnens.
1948
Eine Vortragsreise führt Neutra erstmals seit 18 Jahren wieder nach Europa.
1949
Im Wiener Museum für angewandte Kunst findet eine Neutra-Ausstellung statt.
1949–1953
Büropartnerschaft mit Robert Alexander.
1954
Neutras wichtigste theoretische Schrift „Survival Through Design“ erscheint (dt.: „wenn wir weiterleben wollen …“, 1956).
1955
An der University of California Los Angeles wird das Neutra-Archiv etabliert.
1962
Die Autobiografie „Life and Shape“ erscheint (dt.: „Auftrag für morgen", 1962).
1963
Ein Brand zerstört das Wohn- und Atelierhaus in Silver Lake. Beim Wiederaufbau arbeitet Neutra eng mit seinem Sohn Dion, der ebenfalls Architekt ist, zusammen.
1966–1969
Richard und Dion Neutra gehen eine Bürogemeinschaft ein. Um ihrem Sohn größere Freiheit zu geben, hält sich das Ehepaar zumeist in Wien auf. Der Plan, in der alten Heimat wieder Fuß zu fassen, scheitert jedoch. Rückkehr nach Los Angeles.
1970
Trotz gesundheitlicher Probleme beginnt Neutra eine Vortragsreise durch Europa. Am 16. April, eine Woche nach seinem 78. Geburtstag, erliegt Richard Neutra während eines Besuches des von ihm geplanten Hauses Kemper in Wuppertal einem Herzinfarkt.
Richard Neutra
Wohnhäuser für
Kalifornien
13.02. – 20.09.2020
(16.03. – 28.05.2020
wegen Covid 19 geschlossen)
Wien Museum MUSA
Felderstr. 6-8, 1010-Wien
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